Für einen kurzen Moment bekommt man das Gefühl, es ist 1953 – ein Knistern liegt in der Luft, als würde der Filmprojektor gerade überhitzen. Was natürlich Quatsch ist, denn es ist 2021, und wir sitzen nicht in einem altmodischen Kinosaal, sondern auf Plastik-Gartenstühlen auf dem Platz hinter der Kulturetage. Das was knistert, ist vielleicht das Popcorn, das im Container an der rechten Seite verkauft wird, vielleicht auch die spürbare Vorfreude im Publikum. Ich weiß ganz genau, dass mir nachher im Bett der Bauch schrecklich wehtun wird, doch in diesem Moment fühle ich mich schon fast high vor Glück – endlich wieder Kino!
Draußen-Kino von cine k
Ich hätte vor Freude ein Rad schlagen können, als ich die Ankündigung las, dass das cine k wieder Kino macht. Und was für ein Programm: Oscar-Favourites, wie Minari oder The U.S. vs. Billie Holiday, Dokumentationen und ein Regie-Besuch. Und passend zu diesem glorreichen Wetter draußen, sogar mit Snacks und Getränken! Umso schwerer die Enttäuschung, dass der Film, den ich schon vor der Oscar-Verleihung so gern sehen wollte, restlos ausverkauft war – schon zwei Wochen vor dem eigentlichen Termin. Davon wollte ich mich nicht aufhalten lassen, und nach einigen Telefonaten und Mails sicherte ich mir noch zwei Tickets der Abendkasse. Es sollte die Mühe wert gewesen sein – das Konzept draußen-Kino überzeugt. Die Abholung der Karten und der Einlass funktionieren reibungslos und mit einem großen Augenmerk auf Abstand und Hygiene. Es gibt freie Platzwahl, und – damit nicht jeder einfach mitgucken kann, kommt der Ton über Kopfhörer. Das sieht dann schon unfreiwillig komisch aus, wenn an jedem Kopf im Publikum die synchronen Kopfhörer rot leuchten, während es langsam dunkler wird.
Als ich dann in der Schlange stand, voller Vorfreude meine Karten abholen wollte, wurde mir wieder einmal bewusst, was Corona mit der Kino- und Filmbranche und damit auch mit mir als leidenschaftlichem Kinogänger und Filmfan angestellt hatte. Fast neun Monate ist es her, dass ich zuletzt in einem Kino saß. Klar, in der Zwischenzeit habe ich genug andere großartige und sehenswerte Filme gesehen (an dieser Stelle sei Mud – Kein Ausweg mit Matthew McConaughey von 2012 wärmstens empfohlen), aber ein Netflix-Abend auf dem Sofa ist schlicht und ergreifend kein Vergleich zu der großen Leinwand, die nun endlich wieder vor mir stand.
Der Rausch – ein wahrlich berauschendes Experiment
Und was für ein Film! Ich bin großer Fan von Mads Mikkelsen, auch wenn Hannibal mir mehr Verstörung als Freude bereitet hat. Der Rausch ist ein Fest – nicht nur wegen diesem fantastischen Hauptdarsteller. Das Konzept des Films ist wahrlich simpel: vier befreundete Lehrer, Typ Midlifecrisis, kommen auf die Idee, eine Hypothese des norwegischen Psychologen Finn Skårderud „wissenschaftlich“ zu testen. Der ist der Auffassung, dass die Menschen mit einem Blutalkoholwert von 0,5‰ geboren werden, und dass ein Nachhelfen beim eigenen Blutalkohollevel dazu führe, dass man selbstbewusster, offener und mutiger durchs Leben geht. Wissenschaftlich ist daran natürlich gar nichts, Martin (Mads Mikkelsen), Tommy (Thomas Bo Larson), Nikolaj (Magnus Millang) und Peter (Lars Ranthe) versuchen es trotzdem. Schrittweise dokumentieren sie ihren Exzess in einer Studie: Erst soll jeder von ihnen bei konstanten 0,5‰ bleiben, dann soll ein eigener Optimalwert gefunden werden, bis hin zum vollständigen Rausch. Zuerst hat es den Anschein, als wäre das Experiment ein großer Erfolg: Die Männer scheinen besser in so gut wie allem zu sein – bessere Lehrer, bessere Ehemänner, bessere Väter. Selbstverständlich ist dieser geglaubte Erfolg nicht von Dauer.
Die negativen Folgen kommen schleichend, leise, mit wenig Aufregung. Die Männer pöbeln im Supermarkt, machen den Verkäufer an und reißen die Regale mit ihrem Getorkel ein. Martin stürzt auf dem Weg nach Hause vom Trinkgelage, stößt sich den Kopf, und wird morgens mit Platzwunde in der Einfahrt des Nachbarn gefunden. Einer von ihnen pinkelt wie der eigene Sohn im Kleinkindalter ins Bett. Die Lehrer erscheinen betrunken zur Kollegiumskonferenz und bieten sogar Schülern Alkohol an. In diesen Momenten bricht die heile Welt langsam, die Kamera wird instabiler, die Bilder werden schief, unscharf und unruhig.
Wo bleibt die Moral von der Geschicht’?
Insgesamt bleibt der Film aber leise, die Handlung verläuft über einen Großteil des Films langsam. Seine große Stärke sind Dialoge, egal ob zwischen den Männern, mit ihren Ehefrauen oder den Schülern. Es gibt kaum Gewalt, wenig Action, und sehr viel Tragik. Er ist nicht aufregend, in dem Sinne, dass er die Zuschauenden aufregt. Die Tragik kommt in der Ruhe, mit den kleinen Details, in den subtilen, impliziten Aussagen. Untermalt wird dies von den schwarzen Einblendungen, die etwa die schriftlichen Aufzeichnungen der Studie oder Textnachrichten festhalten, schlichte Times New Roman Schrift auf schwarzem Grund.
Doch er ist zu ambivalent. Während man den Männern beim Scheitern ihres Experiments zusieht, keimt bei sich selbst die Frage auf: Wo ist die Grenze? Sollte man so weit gehen? Ist das schon Alkoholismus? Durch seine Implizitheit hebt er nicht den Finger, er macht keine moralische Diskussion auf, sondern zeigt einfach nur wie es ist. Ich habe kein einziges Mal das Gefühl gehabt, dass der Film mir klar machen will, wie schrecklich übermäßiger Alkoholkonsum sein kann, welche tragischen Auswirkungen er nach sich ziehen kann. Doch am Ende hätte ich das gebraucht. Die Szene, in der die Lehrer mit ihren Schülern den Abschluss feiern, der Sekt über sie regnet und Mads Mikkelsen – wie bereits im Trailer gezeigt – angeheitert tanzt, lässt einen selbst völlig berauscht werden, sie zaubert ein Lächeln auf die Lippen, nicht zuletzt dank Scarlet Pleasure’s „What A Life“. Doch gleichzeitig wirkt es so, als hätte ihr Experiment keine negativen Folgen.
Nichtsdestotrotz bin ich beeindruckt. Gerade durch diese moralisch graue Haltung weckt der Film die anschließende Diskussion. Die Schauspieler machen eine glaubwürdige Entwicklung durch, gerade Mads Mikkelsen begeistert. Wenige, aber richtig eingesetzte und pointierte komödiantische Sprüche und Slapstick-Einlagen erheitern die Stimmung des Films. Ob er nun über 30 weltweite Auszeichnungen bei Filmfesten und -preisen verdient hat, sei dahingestellt. Am Ende überzeugt Der Rausch klar durch seine schlichte Ambivalenz.